Maik - oder »Justiz light«

Maik ist mit Kumpels unterwegs. Er ist neunzehn Jahre alt und wohnt gemeinsam mit einer jüngeren Schwester noch im Haushalt seiner Eltern. Er hat trotz einiger schulischer Probleme einen erweiterten Hauptschulabschuss geschafft. Zwei Anläufe, eine Lehre zu absolvieren, scheitern, bis er schließlich einen Ausbildungsplatz bekommt, um Einzelhandelskaufmann zu werden. Er befindet sich nun im zweiten Lehrjahr. So weit, so gut, könnte man denken. Strafrechtlich vorbelastet ist er allerdings nicht gerade unerheblich: Mit fünfzehn Jahren Sachbeschädigung, Körperverletzung und Fahren ohne Fahrerlaubnis, mit sechzehn Jahren versuchter Diebstahl, mit siebzehn versuchter Einbruchdiebstahl. Staatsanwaltschaft und Gericht halten bis dahin den Ball flach. Vielleicht zu flach. Alle Verfahren werden mit oder ohne Weisungen eingestellt. Das liegt wohl unter anderem daran, dass zwischen den Taten und der Hauptverhandlung jeweils viele Monate vergangen sind und angesichts der ansonsten scheinbar gelungenen Sozialisation aus Sicht der Gerichte keine einschneidenden Maßnahmen angebracht erscheinen.

Das ändert sich, als Maik mit achtzehn - gerade im Besitz eines Führerscheins - betrunken Auto fahrt, einen Unfall verursacht und dann flüchtet. Er wird zu einem dreiwöchigen Dauerarrest verurteilt. Der Führerschein ist auch weg. Ein Jahr später ergeht ein weiteres Urteil wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Jetzt wird eine Jugendstrafe von sechs Monaten verhängt. Was war passiert? Maik kann es nicht leiden, wenn einer seine Schwester anschaut. Das wagte aber nun ein anderer junger Mann. Ohne Umschweife geht Maik mal kurz zu ihm rüber und schlägt dem Gaffer mindestens viermal kräftig mit der Faust gegen den Kopf. Der hat recht ordentliche Verletzungen, die im Krankenhaus ambulant versorgt werden müssen. Maiks Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit liegt bei knapp 2,00 Promille. Maik muss nun mit einem Betreuungshelfer zusammenarbeiten, zudem an einem Anti-Gewalt-Seminar teilnehmen und 400 Euro an den Geschädigten zahlen. Den Weisungen kommt Maik nach. Das Gericht weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Maik nur wenige Tage vor der Gerichtsverhandlung über die dargestellte Tat gemeinsam mit Freunden des Nachts unterwegs war und sich irgendeinen harmlosen Passanten vornahm, der einfach nur das Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Ohne erkennbaren Anlass wird der Mann zum Opfer auserkoren, gemeinsam getreten und geprügelt, wobei man auch nicht davor zurückschreckt, ihm mit Gürtelschnallen ins Gesicht zu schlagen: eine überaus verbreitete und äußerst schmerzhafte Methode körperlicher Misshandlung. Auch als das Opfer bereits am Boden liegt, werden ihm weitere Tritte versetzt. Der Geschädigte hat eine Weile an seinen Verletzungen zu laborieren. Sie heilen binnen knapp zwei Wochen ab.

Wenige Monate nach Maiks Verurteilung - wegen der gerade geschilderten Tat wird noch ermittelt - kommt es zu einer Auseinandersetzung im Straßenverkehr. Maik, der seine Fahrerlaubnis inzwischen wiedererlangt hat, ist offenbar nicht schlauer geworden. Er befährt eine große Straße im Ostteil der Stadt und setzt sich mit seinem kleinen PKW nach einem Überholvorgang so dicht vor einen Mercedes, dass dessen Fahrer nur durch starkes Abbremsen einen Unfall vermeiden kann. Der Vorgang wiederholt sich mehrmals, wobei Maik auch an einer grünen Ampel einfach stehen bleibt und den anderen Fahrer zu einer Gefahrenbremsung veranlasst. Dem reicht es und er fragt Maik an der nächsten Ampel, ob er bekifft sei. Dies trägt ihm erst einmal den „Stinkefinger" ein. Nun steigt der Fahrer des Mercedes aus, um das Kennzeichen von Maiks Auto zu notieren. Der springt ebenfalls aus seinem Fahrzeug und geht mit einem Teleskopschlagstock auf seinen Gegner los. Er schlägt dem Opfer mehrfach heftig gegen die Kniescheiben. Obwohl dieser zur Seite springt, wird er immer wieder getroffen und kann mehrere Tage vor Schmerzen nicht auftreten.

Ein weiteres Dreivierteljahr nach diesem Vorfall lauert Maik, der seine Fahrerlaubnis aufgrund seiner Handlungsweise wieder einmal verloren hat, an einem S-Bahnhof einem jungen Mann auf. Der Grund ist Eifersucht. Maiks Freundin hat einen anderen. Um den Nebenbuhler, der mit Maiks Ex vorbeikommt, ernsthaft in die Mangel nehmen zu können, hat Maik einen Baseballschläger dabei. Den versucht er seinem Opfer auf den Kopf zu trümmern. Der junge Mann kann den Schlag abwenden, indem er sich wegdreht. Der seitliche Brustkorb wird dennoch getroffen, eine Rippe bricht. Die Ex-Freundin schreit Maik entgeistert an und erhält dafür wuchtige Schläge mit der flachen Hand in das Gesicht. Sie erleidet eine blutende Risswunde an der Innenseite der Wange.

Schließlich kann es Maik nicht lassen, trotz des entzogenen Führerscheins kurze Zeit später mit seinem PKW herumzufahren, obwohl er weiß, dass ihm dies untersagt ist.

Das Gericht verurteilt Maik nunmehr wegen sämtlicher Taten eher milde zu einer einheitlichen Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und entzieht ihm die Fahrerlaubnis für drei Jahre. Wieder waren wir spät dran, was sich bei der Bemessung der Strafe nach geltender Rechtsprechung häufig zugunsten der Täter auswirkt, da man ihnen zugutehält, dass sie durch das Warten auf eine Hauptverhandlung belastet werden.

Maik hatte keine schwierigen Sozialisationsbedingungen. Er hatte Eltern, bei denen er, soweit erkennbar, ohne Schwierigkeiten aufwuchs. Er verfügt über einen Schulabschuss und ist mit der Lehre bereits weit fortgeschritten. Hemmschwellen ließ er dennoch nicht erkennen - wie es zunehmend zu beobachten ist.

Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich als Bereitschaftsrichterin am Wochenende über den Erlass eines Haftbefehls gegen mehrere junge Männer sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund zu entscheiden hatte. Den Beschuldigten wurde vorgeworfen, an einer Bushaltestelle einen Menschen grundlos zusammengeschlagen zu haben. Dem völlig Wehrlosen, der einfach nur zur Arbeit fahren wollte, wurde im Anschluss an andere Misshandlungen eine Eisenkette auf den Kopf geschlagen, bis der Schädel brach. Er überlebte dies zwar, wird jedoch nicht wieder in den Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte kommen. Für mich stand die Anordnung der Untersuchungshaft angesichts der Schwere dieser Tat, die von den Beschuldigten gar nicht bestritten wurde, nicht zur Diskussion, obwohl alle über einen festen Wohnsitz verfügten und regelmäßig die Schule besuchten. Die Tatverdächtigen wurden mir einzeln zur Vernehmung vorgeführt. Einer weinte - anscheinend nicht um sich selbst, sondern weil er sich des Ausmaßes der katastrophalen Folgen der Tat bewusst wurde. Andere waren reglos, vielleicht geschockt. Und der Letzte starrte mich aus kalten Augen an und meinte, es könne ja wohl nicht mein Ernst sein, ihn zu inhaftieren, schließlich habe er demnächst schriftliche Prüfungen, und im Übrigen helfe es dem Opfer ja nun auch nicht mehr, wenn er „in den Knast ginge". Haftbefehle habe ich gegen alle Verdächtigen erlassen. Sie wurden Monate später vom Landgericht zu hohen Jugendstrafen verurteilt.

 

Das Ende der Geduld
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